Der Frage „Warum Hitler keine Atombombe hatte“ ging kürzlich Prof. Dr. Manfred Popp, vormals Staatssekretär in Hessen und Vorstandsvorsitzender des Kernforschungszentrums Karlsruhe, auf Einladung der LESE in einem spannenden Referat vor vollem Haus nach. Das Interesse an dem Thema war so groß, dass die Stuhlreihen immer wieder erweitert werden mussten.
Über die Gründe. warum das Naziregime bis zu seinem Ende nicht über Nuklearwaffen verfügte, ist seit den 1950er Jahren viel spekuliert werden. Der Auffassung, die deutschen Atomwissenschaftler hätten von der Entwicklung der Bombe bewusst Abstand genommen (Robert Jungk, Thomas Powers, Edward Teller) stand das Verdikt gegenüber, die intellektuelle Kapazität sei unzureichend gewesen. Werner Heisenberg, von 1939-1945 Sprecher des deutschen Uranvereins, war für die einen ein Held des Widerstandes, für die anderen ein unfähiger Nazi, der wollte, aber nicht konnte.
Die erste Kernspaltung war im Oktober 1938 dem deutschen Atomphysiker Otto Hahn gelungen: als unerwartetes Ergebnis einer intensiven Uran-Bestrahlung mit Neutronen. Dem daraufhin im April 1939 gegründeten Deutschen Uranverein gehörten ausnahmslos Wissenschaftler der Universitäten und des Berliner Kaiser-Wilhelm-Instituts (KWI) an. Ingenieure und Industrielle waren in ihm nicht vertreten. Die Intention beschränkte sich auf Forschungsresultate, (noch) nicht auf deren praktische Umsetzung. 1942 übersandte der Verein einen 135 Schreibmaschinenseiten umfassenden wissenschaftlichen Bericht über den Forschungsstand an das Heereswaffenamt. Die Empfehlung lautete, zunächst über eine gesicherte Demonstration der durch die Kernspaltung ausgelösten Kettenreaktionen verfügen zu müssen, bevor mit einem Reaktorbau begonnen werden könne. Damit war das Projekt auf die lange Bank geschoben. Dem korrespondierte, dass die beiden Möglichkeiten, die Kettenreaktionen unter Kontrolle zu halten, Graphit und schweres Wasser (einem mit dem Wasserstoffisotop Deuterium angereichertes Wasser) nebeneinander verfolgt wurden, ohne Präferenzen festzulegen.
Der bei der Hiroshima-Bombe genutzte Einsatz von aus Öl gewonnenem Graphit kam in Deutschland nicht in Betracht: Hier konnte Graphit nur der Kohle entnommen worden mit einer für die Atomwaffenherstellung wenig geeigneten Qualität. Schweres Wasser war in Hitlers Machtgebiet in Norwegen verfügbar und kam gegen Kriegsende im Forschungsreaktor Haigerloch zum Einsatz. Um waffenfähiges Plutonium in kleinen Mengen herzustellen, wurde ein Kreisbeschleuniger (Zyklotron) benötigt, den es in Deutschland nicht gab. Derartige Zyklotronen fanden sich indessen in besetzten Gebieten Dänemarks und Frankreichs, ohne dass deren Nutzung erkennbar erwogen wurde. Schließlich wurde auch die Entwicklung der von Carl-Friedrich von Weizsäcker 1940 entdeckten Plutonium-Bombe, in die man insbesondere zur Energiegewinnung für U-Boote Hoffnungen gesetzt hatte, nicht intensiviert.
Nach der Ablieferung des Forschungsberichtes an das Heereswaffenamt wechselte die Zuständigkeit zur weiteren finanziellen Unterstützung des Uranvereins zum Reichsforschungsrat. Sie belief sich weiterhin auf rund drei Millionen Reichsmark jährlich für Materialkosten. Die Personalkosten trugen das KWI und die Universitäten. Die beteiligten Wissenschaftler reisten zu Vorträgen und veröffentlichten neue Forschungsergebnisse.
Anders war die Lage bei dem 1940 gestarteten anglo-anerikanischen Manhattan-Projekt. Bis zu 1.300 Wissenschaftler arbeiteten unter strenger Geheimhaltung – Veröffentlichungen ausgeschlossen – bei einem Finanzeinsatz von zwei Milliarden Dollar an der Entwicklung der Bombe. Im November 1942 gelang Enrico Fermi in Chicago mit 150 t Graphit und 50 t Uran die erste selbsterhaltende Kettenreaktion.
In Deutschland hätte das, wäre es wirklich bedingungslos gewollt gewesen, vielleicht vorher geschehen können. Im Mai 1940 verfügte der Hamburger Physiker und Chemiker Paul Harteck über 15 t Trockeneis als einen idealen Experiment-Moderator. Auf seine an sämtliche Kollegen gerichtete Bitte, ihm alles verfügbare Uran zu übersenden, erhielt er lediglich 135 Kilogramm statt der benötigten 15 Tonnen. Heisenberg erklärte es für unverantwortlich, in einem Experiment alles auf eine Karte zu setzen.
Aber auch im Mai 1942 wurde nichts unternommen, als Schweres Wasser und Uran in ausreichenden Mengen zur Verfügung standen. Unter den Wissenschaftlern kursierte die Besorgnis, bei erfolgversprechenden Entwicklungsschritten die folgenden Jahre hermetisch abgeschirmt hinter Stacheldrahtzäunen arbeiten zu müssen und in der Erwartung, einen Fehlschlag ihrer Bemühungen nicht zu überleben. Als die in einem britischen Landhaus internierten deutschen Atomwissenschaftler am 6. August 1945 von der Explosion der Hiroshima(Graphit)- Bombe erfuhren, schwankten deren Reaktionen zwischen Ungläubigkeit und Entsetzen.
Prof. Popp schloss seinen Vortrag mit Zitaten von Werner Heisenberg: „Wir haben den Krieg der Wissenschaft, nicht die Wissenschaft dem Krieg dienen lassen“ und von Otto Hahn: „Ich danke Gott auf den Knien, dass wir die Bombe nicht gemacht haben.“
Die nachfolgenden regen Fragen aus dem Publikum zielten zunächst auf Hitlers Kenntnisse und Einstellung zur Bombe ab. Er hielt, so Prof. Popp, die Atomphysik für jüdisch verseucht und witzelte, dass man mit der Atombombe das Weltall anzünden könne. Die Prioritäten der Reichsführung lagen klar bei vermeintlichen anderen Wunderwaffen, den V1- und V2-Raketen, in deren Entwicklung nicht ein paar Millionen, sondern mehr als eine Milliarde Reichsmark investiert wurden. Das erwies sich am Ende als grandioser Fehlschlag: 8.000 toten Feinden standen 20.000 Tote im eigenen Land bei der Herstellung dieser Waffen gegenüber. Zu keinem Zeitpunkt wäre das Reich in der Lage gewesen, beide Projekte mit der erforderlichen Power zu unterstützen.
Soweit Ende der 50er Jahre Adenauer und Strauß ins Spiel gebrach hätten, eine eigene Atombombe zu bauen, sei das nur ein taktischer Bluff gewesen. Konkret sei dafür nichts veranlasst worden. Auf die Frage schließlich, wie er die iranische Atombombenforschung beurteile, erklärte Popp, unter den heutigen Atommächten habe der verloren, der die Bombe als erster einsetze: Der vernichtende Gegenschlag sei ihm gewiss. Dass ein irrationaler Akteur dennoch eines Tages zur Bombe greife, sei freilich nicht auszuschließen.
Nach langem Beifall für die profunden Ausführungen eines weltweit bekannten Experten wurde, von einem Glas Wein begleitet, noch lange weiter debattiert. (E.S./ Foto: Schwippert)